Ich dachte, ich hätte mein Kinderbuch über Kirchengeschichte fast fertig geschrieben, als ich plötzlich eine ganz neue Welt entdeckte. Wie viele andere schon lange vor mir erkannt hatten, konzentrierten sich die meisten Bücher über die Geschichte des Christentums auf Europa und Amerika. Dabei wurde der umfangreiche Teil von Gottes Wirken im Rest der Welt vernachlässigt. Wann immer Kontinente wie Afrika, Asien und Südamerika erwähnt wurden, geschah dies nur im Zusammenhang mit europäischen oder amerikanischen Missionen.
In den meisten Büchern wird anerkannt, dass das Christentum außerhalb Europas entstand und sich ausbreitete. Einige der größten Theologen der ersten Jahrhunderte n. Chr. (wie Augustinus, Tertullian und die kappadokischen Väter) stammten aus Nordafrika und Kleinasien, und das Christentum fand seine ersten Ausprägungen in ihren Kulturen. Dennoch wird in den Lehrbüchern mehrheitlich der Schwerpunkt schnell auf Europa verlagert, wobei die interessante Arbeit von Theologen, Dichtern und Missionaren wie Ephrem von Syrien oder den Missionaren der Kirche des Ostens aus dem siebten Jahrhundert, die bis nach China gingen, vergessen wird.
Während die Geschichten von „Vorläufern der Reformation“ wie Jan Hus und John Wyclif immer wieder erzählt werden, wissen nur wenige von Estifanos von Gwendagwende, der in derselben Zeit eine ähnliche Reformation der äthiopischen Kirche versuchte. Und doch waren sich Martin Luther und Philipp Melanchthon des Wirkens Gottes in Äthiopien bewusst und legten großen Wert auf ihren persönlichen Austausch mit dem äthiopischen Diakon Michael.
Die Berichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sind voll von Geschichten über westliche Missionare in asiatischen und afrikanischen Ländern. Während der Beitrag dieser Missionare sicherlich von entscheidender Bedeutung war, ist wenig über die Hunderte von Einheimischen bekannt, die ihre Arbeit unterstützten, das gleiche Evangelium predigten und dauerhafte Kirchen gründeten.
Dieser Mangel an Informationen könnte ein Grund dafür sein, dass viele Amerikaner und Europäer die erstaunlich schnelle Ausbreitung des Christentums im so genannten Globalen Süden oder in der Mehrheitswelt – den riesigen Kontinenten Afrika, Asien, Südamerika und Ozeanien – nicht wahrnehmen. Doch da die Christen in diesen Kontinenten ihre westlichen Brüder und Schwestern zahlenmäßig rasch übertreffen, gewinnen ihre Stimmen in einem größeren Rahmen zunehmend an Bedeutung. Dies ist eine Realität, die jeder Versuch, eine moderne Reformation voranzutreiben, nicht ignorieren kann.
Endlich befassen sich viele Gelehrte und Organisationen diesen Themen. Aber warum sollte sich der normale Christ ebenfalls darum Gedanken machen? Haben wir nicht dringendere Angelegenheiten in unserem eigenen Umfeld, um die wir uns kümmern müssen?
Die Kirche Gottes
Als ich begann, die globale Geschichte des Christentums zu studieren, wurde mir als Erstes klar, dass die Gemeinde Gottes Werk ist. Natürlich würden die meisten von uns dem auch zustimmen, ohne sich tiefer damit auseinanderzusetzen. Aber die Lektüre der Berichte darüber, wie Gott seine Gemeinde auf der ganzen Welt bewahrt hat und weiterhin bewahrt, wirkt unseren weitverbreiteten westlichen Tendenzen zu Pessimismus („das Christentum liegt im Sterben“) und Triumphalismus („wir sind die Bewahrer des wahren Christentums“) entgegen.
Ein deutliches Beispiel dafür, wie Gott seine Gemeinde bewahrt, finden wir in der Zeit der Entkolonialisierung Afrikas (von Mitte der 1950er Jahre bis 1975). Als ein Land nach dem anderen begann, viele der übernommenen westlichen Bräuche abzulehnen, um sein eigenes Erbe wiederzuentdecken, sagten einige Beobachter voraus, dass auch das Christentum verworfen werden würde. Stattdessen wuchs die Zahl der Christen in Afrika weiter an, größtenteils unter lokalen Pastoren und Ältesten. Dem Historiker Adrian Hasting zufolge stieg diese Zahl von etwa 25 Millionen im Jahr 1950 auf etwa 100 Millionen im Jahr 1975. Und das Center for the Study of Global Christianity schätzt, dass es heute über 734 Millionen Christen in Afrika gibt.1
Ähnliche Statistiken gibt es auch für Asien, Südamerika und Ozeanien. Und es gibt ähnliche Geschichten von Gemeinden, die weiterhin das Evangelium verkündeten, nachdem das Christentum verboten wurde und ausländische Missionare gezwungen wurden, das Land zu verlassen. Diese Berichte können unsere Herzen nur zum Lobpreis dessen erheben, der seiner Verheißung treu ist, eine Kirche zu bauen, der die Pforten der Hölle nichts anhaben können (Matthäus 16,18).
Eine weltweite Kirche
Aber unser Wissen über die weltweite Kirche ist nicht nur zu unserer eigenen Ermutigung nützlich. Wie das Glaubensbekenntnis von Nizäa lehrt, sind wir eine katholische (universale) Kirche2 – eine Wahrheit, die wir nicht vergessen dürfen. Als solche sind wir unter anderem dazu aufgerufen, „den anderen höher zu achten als sich selbst“ und „nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient“ zu sehen (Philipper 2,3-4). Dazu gehört, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und unsere Unterschiede zu schätzen.
Als gefallene Menschen neigen wir dazu, in uns selbst versunken zu sein und uns in bequemen Echokammern zu verschanzen. Wir brauchen Stimmen aus anderen Zeiten und anderen Ländern, um unsere Sicht der Realität zu verdeutlichen. So wie C. S. Lewis von einem „chronologischen Snobismus“ sprach, den er als „unkritische Akzeptanz des intellektuellen Klimas, das in unserem eigenen Zeitalter herrscht“ definierte, können auch wir einen geografischen Snobismus erkennen. Dann nämlich, wenn wir ohne zu hinterfragen, die für unsere Kultur typischen Annahmen und Schlussfolgerungen annehmen und das auch in christlichen Kreisen3. Diese Gefahr kann durch einen demütigen und ehrlichen Austausch mit unseren Brüdern und Schwestern, die die Mehrheit ausmachen, behoben werden.
Selbst alltägliche Themen, die wir gerne in unseren eigenen Kreisen diskutieren, verlieren ihre Gewohnheit und Vorhersehbarkeit, wenn sie in einem anderen Kontext besprochen werden. Betrachten wir die Sachverhalte aus einem anderen historischen oder geografischen Blickwinkel, kann dies zu einer tieferen Reflexion führen. Die einfache Tatsache, dass andere Kulturen einige der uns vertrauten Etiketten nicht geschaffen haben, kann uns oft dabei helfen, dieselben Fragestellungen von unseren Emotionen zu lösen und sie mit größerer Unvoreingenommenheit zu betrachten.
Können wir aus Festo Kivengere’s „I Love Idi Amin“, das er im Exil schrieb, nachdem viele seiner Freunde gefoltert und getötet worden waren, etwas über die Liebe zu unseren Feinden lernen? Können uns die Überlegungen der südafrikanischen Kirche während und nach den Jahrzehnten der Apartheid lehren, wie wir unsere sozialen Spaltungen und sündigen rassistischen Tendenzen überwinden können? Können die Briefe chinesischer Christen, die unter Verfolgung geschrieben wurden, ein Echo auf die vergessenen Ermahnungen zur Geduld der frühen Kirche sein? Kann uns die Suche nach der nationalen Identität der afrikanischen Kirchen lehren, wie wir unsere eigene Identität sehen können, ohne in die übliche Falle des Synkretismus4 zu tappen? Können wir aus der laufenden Diskussion über das weit verbreitete Problem der Gewalt gegen Frauen in weiten Teilen des Globalen Südens Antworten ableiten? Und können wir mit Bescheidenheit und Einfühlungsvermögen zu diesen Diskussionen beitragen, indem wir aus unseren eigenen Erfahrungen und (oft schwer erlernten) Lektionen schöpfen?
Die Bibel mit den Augen von Menschen zu lesen, die in einer ähnlichen Kultur wie zu biblischen Zeiten leben, kann uns aus unserer Vertrautheit aufrütteln und uns zu einem tieferen Verständnis nicht nur der anderen, sondern auch der Heiligen Schrift führen. Der kenianische Theologe Musimbi Kanyoro stellt fest: „Kulturen, die weit von der biblischen Kultur entfernt sind, laufen Gefahr, die Bibel als Fiktion zu lesen.“5
Die stärkere Betonung des Gemeinschaftslebens und die schärfere Wahrnehmung der spirituellen Welt, die für die afrikanische Kultur typisch sind, können uns beispielsweise helfen, unseren Individualismus und unsere Hyperrationalität zu korrigieren, wenn wir die Heilige Schrift und unser Zusammenleben als Christen studieren.
Die schrecklichen Herausforderungen, mit denen viele unserer Brüder und Schwestern konfrontiert sind, können uns helfen, unsere Probleme und Sorgen neu zu bewerten. Meine täglichen Sorgen verschwanden, als mir eine Freundin aus Nigeria erzählte, wie ihr Pastor nur knapp einer Kugel entging, die durch sein Fenster geschossen wurde, und später von einer Gruppe Einheimischer entführt (und glücklicherweise befreit) wurde.
Unser Leben und unsere Gedanken für unsere Brüder und Schwestern in anderen Kulturen zu öffnen, wird uns einige Mühe kosten. Wir fühlen uns von Natur aus zu denen hingezogen, die so sind wie wir selbst, und unsere gegenwärtige Realität erscheint uns immer zwingend. Aber in einer Zeit, in der das Christentum von Spaltungen geplagt zu sein scheint und in der die sozialen Medien unsere Angst davor verstärken, dass unsere Ansichten in Frage gestellt werden, scheint es dringender denn je, zu erkennen, dass wir alle lebendige Steine sind, die gemeinsam – mit all unseren Unterschieden – zu demselben geistlichen Haus Gottes (1. Petrus 2,5) aufgebaut werden.
Wir müssen nicht unser ganzes Leben umkrempeln. Die Erkenntnis, dass Gottes Wirken größer ist als der Raum, den wir ihm oft zuweisen, kann unser Leben bereichern. Auch wenn wir uns über Nachrichten aus anderen Ländern informieren, die dortigen Gemeinden in unsere Gebete einschließen, einige Bücher über das weltweite Christentum lesen, eine größere Vielfalt von Stimmen in unsere aktuellen Diskussionen einbringen und Menschen aus anderen Kulturen in unseren Kreisen willkommen heißen, kann das unsere Denkweise erweitern, unnötige Schutzmechanismen abbauen, eine Offenheit schaffen und demütige Bereitschaft lehren, von anderen zu lernen.
Unser gemeinsames festes Fundament
Gleichzeitig sollten wir, die wir das Erbe der protestantischen Reformatoren schätzen, unsere Füße fest auf das Evangelium stellen, das sie wiedergefunden haben. Der nigerianische Theologe Byang Kato warnte vor der Tendenz, den objektiven, weltfremden Charakter des Evangeliums aus den Augen zu verlieren:
„Das inspirierte, irrtumslose Wort Gottes gibt uns in 1. Korinther 15,1-4 das Evangelium und seine wirkende Kraft in aller Kürze. Es ist nicht Teil der Kultur irgendeines Volkes. Es ist auf keinem Boden heimisch. Es ist propositional offenbart und muss dementsprechend verkündigt werden. Die Juden hatten es nicht. Die Deutschen, die Amerikaner, die Afrikaner, die Europäer mussten sie durch einen Boten erhalten.“6
Kato war ein Verfechter der Kontextualisierung, die ein wichtiges Instrument ist, um das Evangelium in verschiedenen Kulturen zu verstehen. Aber er wusste, wo er die Grenze ziehen musste. So auch der chinesische Pastor Wang Mingdao, als er erkannte, dass das von der staatlich unterstützten Kirche unter dem Deckmantel einer eher chinesischen Form des Christentums aufgezwungene Evangelium nicht die Geschichte Christi, sondern den Fortschritt der chinesischen Nation darstellte. „Sie kommen nicht an die Öffentlichkeit und leugnen die Lehren; sie interpretieren sie einfach auf eine verschwommene und zweideutige Weise… Wir beziehen unseren Standpunkt auf der Grundlage der christlichen Lehre.“7
Andere Christen auf verschiedenen Kontinenten sind zu denselben Schlussfolgerungen gekommen und wiederholen die Lehren, die die Reformer der Vergangenheit gezogen haben. Während wir in Gottes faszinierendem Werk einer modernen globalen Reformation vorankommen, muss unsere grundlegende Frage lauten: Wie können wir, die weltweite Kirche, uns gegenseitig ermutigen, dem Evangelium treu zu bleiben? Die Einheit der weltweiten Kirche – wie die jeder Ortskirche – hängt von dieser Grundlage ab.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in Modern Reformation 33:6 (2024): 50-55. Weitere Informationen findest du unter: https://www.modernreformation.org/resources/essays/a-global-modern-reformation. Der Artikel von Simonetta Carr wurde aus dem englischen Original übersetzt.
- „Status of Global Christianity, 2024, in the Context of 1900-2050“, online verfügbar beim Center for the Study of Global Christianity, tinyurl.com/5apc7a37 ↩︎
- Anmerkung der Übersetzerin: „Katholisch“ meint nicht die römisch-katholische Kirche, sondern bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung „allumfassend“. Die universale Kirche schließt alle Menschen ein, die auf Jesus Christus allein vertrauen, um gerettet zu werden, ganz gleich, wer sie sind oder wo sie leben. ↩︎
- C. S. Lewis, Surprised by Joy (Harcourt, Brace, Jovanovich, 1955), 201. ↩︎
- Anmerkung der Übersetzerin: Vermischt und verbindet Religionen oder religiöse Traditionen miteinander verbindet ↩︎
- Musimbi Kanyoro, „Reading the Bible from an African Perspective“, zitiert in Philip Jenkins, The New Faces of Christianity: Believing the Bible in the Global South (Oxford University Press, 2006), 68. ↩︎
- Byang H. Kato, „The Gospel, Cultural Context, and Religious Syncretism,“ in Let the Earth Hear His Voice, Official Reference Volume: Papers and Responses, ed. J. D. Douglas (World Wide, 1975), 1216. ↩︎
- Wang Mingdao, „Wir, weil der Glaube“, 113-14, zitiert in Thomas Alan Harvey, Acquainted with Grief: Wang Mingdao’s Stand for the Persecuted Church in China (Brazos Press, 2002), 88. ↩︎